EU-SondergipfelGeiz, Streit, abgebrochene Abendessen: Rückblick auf drei turbulente Tage in Brüssel

EU-Sondergipfel / Geiz, Streit, abgebrochene Abendessen: Rückblick auf drei turbulente Tage in Brüssel
Viel Streit, am Sonntagabend aber noch ohne Ergebnis: Der Niederländer Mark Rutte (l.), Angela Merkel, Ursula von der Leyen, Emmanuel Macron beim Gipfel in Brüssel Foto: AFP/Francisco Seco

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Auch am Abend des dritten Tages beim EU-Sondergipfel stand eine Einigung noch aus. Die Staats- und Regierungschefs haben die ganze Nacht weiterverhandelt. Immer noch geht es um das europäische EU-Wiederaufbaupaket gegen die Corona-Folgen. Ein Rückblick auf drei Tage in Brüssel, die die Lage der Union offenlegen.

Es sollte ein historischer EU-Gipfel werden. Mitten in der größten Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg wollten Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, Luxemburgs Premier Xavier Bettel und 24 weitere Staats- und Regierungschefs der EU den Startschuss für den „Wiederaufbau“ geben.

Doch nach dreitägigen Beratungen in Brüssel zeichnete sich am Sonntagabend immer noch keine Einigung ab. Ein Treffen in großer Runde wurde mehrfach vertagt, die Chefs mussten nachsitzen. Merkel, die als amtierende EU-Ratsvorsitzende eigentlich für den Durchbruch beim Billionen-Poker sorgen sollte, schien überfordert.

„Ob es zu einer Lösung kommt, kann ich nach wie vor nicht sagen“, sagte die CDU-Politikerin. Ganz ähnlich hatte sie sich allerdings schon zu Beginn des Treffens am Freitag geäußert. Dazwischen lagen zweieinhalb Tage voller Streit, in denen das Ziel einer solidarischen Union immer mehr verblasste und die Gräben immer tiefer wurden.

Als Gewinner des kräftezehrenden Gipfel-Marathons stehen bisher nur die „Frugal Four“ da, die geizigen – pardon: sparsamen – vier EU-Länder Niederlande, Österreich, Dänemark und Schweden. Sie haben Merkel und Gipfelchef Charles Michel vor sich hergetrieben und das geplante 750 Milliarden Euro schwere Corona-Hilfsprogramm gerupft.

Erste Attacke schon am Freitagabend

Die erste Attacke kam schon am Freitagabend: Der niederländische Premier Mark Rutte bestand darauf, ein Vetorecht gegen EU-Hilfen an Krisenländer wie Italien oder Spanien zu erhalten. Das führte zum Eklat. Rutte solle aufhören, sich wie „die Polizei von Europa“ aufzuführen, schimpfte Bulgariens Regierungschef Boiko Borissow.

Die Stimmung war auf dem Tiefpunkt, Michel brach den Gipfel kurz nach dem Abendessen ab. Doch es war nur der erste Akt des Gipfel-Dramas, wie sich am Samstagmorgen zeigen sollte. Wiederum stand Rutte im Mittelpunkt, wiederum war von Merkels Vermittlung wenig zu sehen.

Xavier Bettel war mit einer „Moien“-Maske in Brüssel
Xavier Bettel war mit einer „Moien“-Maske in Brüssel Foto: AFP/Olivier Matthys

Stattdessen machte Michel einen weiteren Schritt auf die „Frugals“ zu. Nach Beratungen im kleinen Kreis legte er einen Kompromiss vor, der eine Kürzung bei den Zuschüssen für Corona-Krisenländer vorsieht. Statt der ursprünglich geplanten 500 Milliarden Euro sollen es nur noch 450 Milliarden sein; demgegenüber könnten die Kredite von bisher 250 auf 300 Milliarden ansteigen.

Doch Italien und andere Krisenländer wollen keine rückzahlbaren Kredite – sie brauchen dringend Zuschüsse, um die Lage zu meistern. Zudem sträuben sie sich gegen ein allzu strenges Reform-Korsett, wie es Rutte offenbar vorschwebt. Eigens für den Niederländer hat Michel auch noch eine „Super-Notbremse“ vorgeschlagen.

Demnach können ein oder mehrere Mitgliedstaaten bei Zweifeln an vereinbarten Reformen den Ratschef einschalten und die Auszahlung von Finanzhilfen vorläufig stoppen. Doch damit war Rutte immer noch nicht zufrieden. Bei einem Treffen mit Merkel und Macron forderte er am Samstagabend eine weitere Kürzung der Transferleistungen.

Sie gingen schlecht gelaunt weg

Rutte , über Merkel und Macron nach dem gemeinsamen Abendessen

Dies führte zum zweiten Eklat; „Mercron“ verließen nach dem – laut Diplomaten „sehr harten“ – Treffen gemeinsam den Saal. „Sie gingen schlecht gelaunt weg“, sagte Rutte hinterher. Von Schuldbewusstsein keine Spur. Merkel versuchte, den Streit herunterzuspielen. Es gebe „eine breite Bereitschaft unter den Mitgliedsstaaten, eine Lösung zu finden“, ließ sie verlauten. Die Kanzlerin braucht den Erfolg, um nicht als schwache Ratspräsidentin dazustehen. Ganz anders Macron: Er drohte, nach Paris abzureisen und betonte, mögliche Kompromisse dürften „nicht auf Kosten europäischer Ambitionen“ gehen.

Dann bricht der zweite Konflikt aus

Danach ging lange nichts mehr in Brüssel. Denn kurz zuvor war noch ein weiterer Konflikt offen ausgebrochen: der Streit über die Frage, ob die Gewährung von EU-Geldern an den Rechtsstaat gebunden werden soll. Ungarns Regierungschef Viktor Orban hatte schon vor dem Gipfel mit einem Veto gedroht und ließ sich auch beim Abendessen am Samstag, bei dem das Thema zur Sprache kam, nicht umstimmen.

Am Sonntag eskalierte auch dieser Konflikt. Orban erklärte, er könne sich nicht erklären, warum Rutte „mich  oder Ungarn hasst“. Er habe dem Niederländer nichts getan und sei sogar bereit, über den Rechtsstaat zu diskutieren – zur Not eine ganze Woche lang. Spätestens da war klar, dass sich der Gipfel weiter in die Länge ziehen würde.

Die Fronten verhärteten sich. „Europa ist kein Gemüseladen, in dem man sich alles aussuchen kann“, schimpfte Bettel unter Anspielung auf Orban. „Europa dreht sich um Werte, die wir verteidigen.“ In den sieben Jahren seiner Amtszeit habe er selten „in so vielen Punkten so diametral entgegengesetzte Positionen gesehen“.

Europa ist kein Gemüseladen, in dem man sich alles aussuchen kann – Europa dreht sich um Werte, die wir verteidigen

Xavier Bettel

Diesmal stehen nicht mehr nur die Nordeuropäer gegen die Südländer, wie schon vor zehn Jahren in der Eurokrise. Nun streitet auch noch der Westen gegen den Osten. Zudem wagen die „Frugal Four“ den Aufstand gegen das deutsch-französische „Direktorat“. Es ist das Worst-Case-Szenario, das Merkel eigentlich vermeiden wollte.

Immerhin gelang es, eine weitere Eskalation zu vermeiden. Michel verschob die ursprünglich für zwölf Uhr geplante Aussprache in großer Runde, um Raum für bilaterale Gespräche und Treffen in kleinen Gruppen auf einer sonnigen Terrasse zu schaffen. Sogar der Niederländer Rutte und der Italiener Giuseppe Conte trafen sich zum Tête-à-tête.

Wut auf die „Sparsamen“ steigt

Doch die Stimmung wurde nicht besser. Vielmehr stieg die Wut auf die „Frugal Four“ und ihre Weigerung, sich solidarisch mit den Opfern der Corona-Krise zu zeigen. Der hinhaltende Widerstand der Nordländer sei „nicht mehr akzeptabel“, schimpfte Portugals Regierungschef Antonio Costa. „Europa wird erpresst“, klagte Conte.

Merkel und Michel, die den Gipfel zum Erfolg führen wollten, wirkten zunehmend ratlos. Immer neue Gesprächsrunden wurden angesetzt. Gleichzeitig wurde eifrig gerechnet. Wer bekommt was aus dem Wiederaufbau-Fonds? Und wer muss wie viel in das neue, 1.074,3 Milliarden Euro schwere EU-Budget einzahlen, wie hoch fallen die Rabatte aus? Eigentlich sollten die Nachlässe mit dem Brexit wegfallen. Doch ausgerechnet Deutschland und die „Frugal Four“ haben sich neue Rabatte gesichert.

Satte 3,671 Milliarden Euro soll der deutsche Rabatt in den nächsten sieben Jahren ausmachen, schlägt Michel vor.  Auf Platz zwei kommen die Niederlande mit 1,576 Milliarden Euro. Schweden, Österreich und Dänemark dürfen sich sogar noch über ein Aufstockung ihrer Rabatte freuen. Sie wachsen auf 823, 287 bzw. 222 Millionen Euro.

Doch selbst diese großzügigen Geschenke, die von anderen Nettozahlern wie Frankreich, Italien oder Luxemburg finanziert werden müssen, konnten das Blatt nicht wenden. Denn die „Frugal Four“ forderten weitere Kürzungen bei den Zuschüssen an die Krisenländer. Statt auf 450 Milliarden Euro sollten sie auf 350 Milliarden Euro sinken.

Bettel muss weg – wegen der Corona-Krise

Bei 400 Milliarden Euro ist Schluss, hielt Macron dagegen. Die Chefin der Europäischen Zentralbank, Christine Lagarde, sekundierte: „Aus meiner Sicht ist es besser, sich auf ein ambitioniertes Paket entlang dieser Linien zu verständigen, auch wenn es etwas mehr Zeit braucht“, sagte sie. Es klang wie eine Aufforderung zum Abbruch.

Doch dazu kam es zunächst nicht. Mit rund siebenstündiger Verspätung trafen sich die Staats- und Regierungschefs am Sonntag schließlich doch noch zum Abendessen in großer Runde. Nur einer war nicht dabei: Xavier Bettel. Luxemburgs Premier musste zu einer Corona-Krisensitzung nach Senningen, er ließ sich von seiner belgischen Amtskollegin Sophie Wilmès vertreten.

Offenbar hatte Bettel keine Angst, etwas zu verpassen: Die Beratungen würden sich ohnehin den ganzen Sonntagabend hinziehen, hieß es in Brüssel. Selbst bei einer Einigung werde es noch Stunden dauern, bis die Details festgeklopft sind.

alois
19. Juli 2020 - 22.06

Politiker die in Krisenzeiten Europas Binnengrenzen sperren dürften in Brüssel überhaupt kein Mitsprachrecht haben!!!