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Türkei plant Corona-Amnestie für Häftlinge

Die türkische Regierung plant Massenentlassungen aus den Haftanstalten, kennt aber keine Gnade für politische Gefangene.

Soldaten vor dem Mausoleum von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk in Ankara.
Soldaten vor dem Mausoleum von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk in Ankara. Foto: AFP

Von LW-Korrespondent Gerd Höhler (Athen)

In der Türkei wächst die Sorge vor einer Ausbreitung des Corona-Virus in den überfüllten Gefängnissen des Landes. Jetzt bereitet die Regierung eine Amnestie vor, um die Enge in den Haftanstalten zu lindern. Etwa jeder dritte Gefangene könnte freikommen. Politische Häftlinge sollen aber hinter Gittern bleiben. Menschenrechtsorganisationen protestieren.

Überfüllte Gefängnisse

Platz für rund 219.000 Gefangene gibt es in den 353 türkischen Haftanstalten. Tatsächlich sitzen dort aber fast 300.000 Menschen. Die Gefängnisse sind also fast um ein Drittel überbelegt. Anwälte berichten von Zellen, die für sieben Häftlinge konzipiert sind, aber 45 Gefangene beherbergen.

Die Menschen desinfizieren sich die Hände mit Kölnisch Wasser.
Die Menschen desinfizieren sich die Hände mit Kölnisch Wasser. Foto: AFP

Vor allem seit Recep Tayyip Erdogan das Land regiert, hat die Überfüllung stark zugenommen. Als seine islamistische AKP 2002 an die Macht kam, gab es nur 60.000 Häftlinge. Heute sind es fünf Mal so viele. Allein seit dem Putschversuch vom Juli 2016 kamen rund 50.000 Menschen in Haft.

Corona-Brutstätten

Jetzt werden die Überfüllung und die schlechten Hygienebedingungen in den Haftanstalten zu einer Gefahr für das Land. Denn sie bieten dem Corona-Virus ideale Ausbreitungsmöglichkeiten. Justizminister Abdülhamit Gül versicherte zwar der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu, es gebe bisher in den Gefängnissen keine einzige Corona-Infektion. Aber das kann er gar nicht wissen, weil überhaupt nicht systematisch getestet wird.

Wegen des Corona-Virus wird in Istanbul die Umgebung desinfiziert.
Wegen des Corona-Virus wird in Istanbul die Umgebung desinfiziert. Foto: AFP

Immerhin scheint der Regierung das Risiko aber bewusst zu sein. Sie beschleunigt deshalb die bereits im vergangenen Jahr in Angriff genommenen Pläne für eine Amnestie: Wer die Hälfte seiner Strafe verbüßt hat, könnte vorzeitig entlassen werden.

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Müttern mit kleinen Kindern will die Regierung ebenfalls ihre Reststrafen entlassen. In den türkischen Gefängnissen sitzen etwa 780 Babys mit ihren Müttern. Auch für ältere Gefangene sollen sich die Gefängnistore öffnen. Unter dem Strich könnten etwa 100.000 Häftlinge von der Amnestie profitieren.

Kein Pardon für "Terroristen"

Kein Pardon soll es aber für Sexualverbrecher und Mörder geben. Auch wer wegen „Terrorismus“ in Untersuchungs- oder Strafhaft sitzt, kann nicht mit Entlassung rechnen. Menschenrechtsorganisationen protestieren dagegen. Denn die türkischen Anti-Terror-Gesetze sind sehr weit gefasst. Sie dienen vor allem dazu, Regierungskritiker zu verfolgen. Schon ein kritischer Post in den sozialen Medien oder ein unliebsamer Zeitungskommentar kann dem Verfasser eine Anklage wegen „Terrorpropaganda“ einbringen. Etwa ein Fünftel aller Häftlinge in den türkischen Gefängnissen sitzt wegen solcher „Terror“-Vorwürfe ein.

Der Mäzen und Bürgerrechtler Osman Kavala sitzt noch immer in Haft.
Der Mäzen und Bürgerrechtler Osman Kavala sitzt noch immer in Haft. Foto: Wiktor Dabkowski/dpa

In vielen dieser Fälle geht es um vage Anschuldigungen, die sich auf konstruierte Indizien oder Denunziationen stützen. So wurden zum Beispiel auch der deutsche Menschenrechtsaktivist Peter Steudtner, die Journalistin Mesale Tolu und der „Welt“-Korrespondent Deniz Yücel wegen Terrorvorwürfen angeklagt.

Sieben Jahre Untersuchungshaft

Der Mäzen und Bürgerrechtler Osman Kavala sitzt ebenfalls wegen „Terror“-Vorwürfen seit über zwei Jahren in Untersuchungshaft. Ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der Kavalas Freilassung anordnete, ignoriert die türkische Justiz.

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Die Europäische Union fordert von der Türkei seit Jahren eine Lockerung der Anti-Terror-Gesetze. Stattdessen hat Ankara die Strafvorschriften nach dem Putschversuch von 2016 sogar weiter verschärft. Staatschef Erdogan verlängerte per Dekret die Dauer der Untersuchungshaft in solchen Verdachtsfällen auf sieben Jahre.

Anti-Terror-Gesetze missbraucht

Es sei unerlässlich, auch politische Gefangene bei der geplanten Amnestie zu berücksichtigen, sagt Emma Sinclair-Webb, die Türkei-Direktorin der Menschenrechtsorganisation "Human Rights Watch" (HRW). Terrorismus höre sich zwar nach einem der schwerwiegendsten Tatvorwürfe überhaupt an, aber die türkische Regierung missbrauche die Anti-Terror-Gesetze, um politische Gegner zu verfolgen, kritisiert Sinclair-Webb.

Auch türkische Anwaltskammern und Bürgerrechtsgruppen appellieren jetzt an die Regierung, politische Gefangene bei der geplanten Amnestie zu berücksichtigen.

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